Akademie-Mitglieder im Gespräch
In der Reihe „Akademie-Mitglieder im Gespräch“ äußern sich Künstlerinnen und Künstler zu den gesellschaftspolitischen Folgen der Corona-Krise sowie zur Rolle und zum Potential von Kultur in Zeiten des Ausnahmezustands. Ein Teil der Gespräche entsteht in Zusammenarbeit mit rbbKultur.
Außerdem führen die Sekretäre der sechs Kunst-Sektionen Interviews mit Mitgliedern. Sie sprechen über ihre aktuelle Arbeit, über die Folgen der Krise für die Gesellschaft und darüber, was künstlerisches Handeln bewirken kann. Die Gespräche können Sie im Folgenden nachhören.
Sektion Baukunst
Audio © Akademie der Künste, Berlin. Foto © Inge Zimmermann
Sektion Bildende Kunst
Audio © Akademie der Künste, Berlin. Foto © Andrea Stappert
Sektion Darstellende Kunst
Audio © Akademie der Künste, Berlin. Foto © Inge Zimmermann
Sektion Film- und Medienkunst
Audio © Akademie der Künste, Berlin. Foto © Inge Zimmermann
Sektion Literatur
Audio © Akademie der Künste, Berlin. Foto © gezett.de
Sektion Musik
Audio © Akademie der Künste, Berlin. Foto © Inge Zimmermann
„Zukunftskino“ – Projektskizze für die Akademie der Künste Berlin
Vorbemerkung
Es ist der späte April und die Einschätzungen häufen sich, dass das Kino „nach Corona“ nicht mehr sein wird, was es vorher war. An dieser Sicht der Dinge ist vielleicht nur eines wirklich verfehlt: die Annahme, dass das Kino „vor Corona“ ganz in Ordnung war; dass der Platz des Kinos in der Gesellschaft bzw. unter den Künsten und sein Verhältnis zu den sozialen Kontexten und historischen Potentialen, zu seiner eigenen Utopie, nicht auch schon im Februar 2020 oder im Vorjahr ein Problem dargestellt hätte.
Lars-Henrik Gass, Gabu Heindl und ich verfassten im vergangenen Herbst eine Projektskizze für die Akademie der Künste: Zukunftskino. Der Begriff ist eine Frage. Sie stellt sich im Frühjahr 2020 in zugespitzter Weise.
Alexander Horwath
April 2020
Befund
Der Kinobesuch in Deutschland ist von rund 800 Millionen Eintritten pro Jahr in den fünfziger Jahren auf nunmehr rund 100 Millionen im Jahr gefallen. Die Abwärtskurve wird statistisch ein wenig kaschiert durch eine Zunahme der Leinwände und erhöhte Eintrittspreise. In vielen Städten sind Kinos gänzlich verschwunden. Das 20. Jahrhundert hat das Kino hervorgebracht; das 21. droht davon nichts übrig zu lassen. Es geht daher nicht allein um Filmgeschichte, deren Überlieferung bedroht ist, sondern auch um die Kinoerfahrung selbst, die sich kaum mehr im urbanen Raum behaupten kann.
Die siebziger Jahre waren geprägt durch den Kampf um die Anerkennung des Kinos als eigenständige mediale Realität gegenüber den Künsten. Dies führte etwa in Deutschland zur Einrichtung des ersten Kommunalen Kinos in Frankfurt am Main, das Filmgeschichte ohne Abstriche an Wirtschaftlichkeit vertreten sollte, durch die Stadt und für die Stadt, auch architektonisch gleichberechtigt neben anderen Künsten am Museumsufer. Ein Ort, der Kino sinnhaft erfahrbar werden lässt, existiert kaum, weder in Deutschland noch anderswo. Kino hat bislang kaum irgendwo eine konsequente Umsetzung erfahren, die seiner mediengeschichtlichen Besonderheit entspricht; Kino bleibt historisch gesehen ein weitgehend uneingelöstes Versprechen. Kino ist letztlich nicht nur ein Abspielort für Filme, sondern auch ein architektonischer und damit sozialer Ort, eine kulturelle Praxis.
Kino hatte an uns vor allem eine soziale Frage – daran erinnerte Hilmar Hoffmann bereits 1972, der in Deutschland das erste und einzige Kino gleichberechtigt neben den anderen Künsten etablierte: „Wenn es dem Kommunalen Kino nicht gelingt, die eigene gesellschaftspolitische Rolle mit den progressiven gesellschaftlichen Erfordernissen zu synchronisieren, ist ihr Stellenwert kaum höher als auf der Ebene der musealen Medien zu veranschlagen.“
Ein Kino der Zukunft müsste also zunächst die mediengeschichtliche Besonderheit des Kinos plausibel und paradigmatisch repräsentieren – und sich zugleich ganz neuartigen Aufgaben widmen: ein Publikum über die Qualität der Architektur, der Gastronomie, der Arbeitsmöglichkeiten, der Partizipation erreichen; sich als Ort des Austausches von Migrationserfahrungen konzipieren; den Gegensatz zwischen digitaler und analoger Welt, zwischen Rezeption und Produktion nicht antagonistisch verstehen, sondern kreativ artikulieren sowie ökologisch und technologisch höchsten Ansprüchen genügen; nicht zuletzt: ein Ort von Öffentlichkeit sein (für verschiedene Teil-Öffentlichkeiten).
Kino ist ein Ort, an dem sich eine Vorweg- und Nachher-Beziehung zu einem Film aufbaut. Kinobesucher*innen gehen „in den Film“ hinein und kommen „aus dem Film“ heraus – durch den Stadtraum, durch das Foyer. Das Foyer eines Kinos ist, wie der Kinosaal selbst, ein Raum für eine kontingente Masse an Menschen – ein Ort, wo wir in einer bestimmten Nähe auf „Andere“ treffen, auf uns Unbekannte, wo sich Öffentlichkeit bildet. Siegfried Kracauer schreibt 1926 in Kult der Zerstreuung: „Durch ihr Aufgehen in der Masse entsteht das homogene Weltstadt-Publikum, das vom Bankdirektor bis zum Handlungsgehilfen, von der Diva bis zur Stenotypistin eines Sinnes ist.“ Neben dem Film selbst ist es also auch die Nicht-Festgelegtheit der Zusammenstellung des Publikums, die Öffentlichkeit erfahrbar macht. Ganz im Kino sein, bedeutet ein Pendeln zwischen Geschehen auf der Leinwand und dem Geschehen im dunklen Saal, aber auch dem Geschehen im städtischen (Um)Raum des Kinos. Der Kino-Raum ist zur Öffentlichkeit ausgebaute Zeit, so Film- und Politik-Theoretiker Drehli Robnik, rückgebunden an eine demokratische Geschichtlichkeit.
Gerade in der neoliberalen Stadt und eingebunden in Prozesse von Gentrifizierung ist Kino als öffentlicher Raum besonders wichtig, als Ort von Kommunalität inmitten lukrativer Stadtzentren. Denn Kino als öffentlicher Raum heißt auch soziale Durchlässigkeit, somit Zugänglichkeit für alle. Im kommunalen Kino als öffentlichem Raum sind also zwei Löcher in der Wand wesentlich: nicht nur das der Projektion, sondern auch das, das Zugänglichkeit gewährt, auch für Obdachlose und Mittellose und generell für Leute, die nicht Teil einer Kulturszene sind. Kommunales Kino ist ein Raum, in dem das Gastrecht mindestens so viel zählt (oder zählen sollte) wie die Gastronomie. Somit ist das Kino der Zukunft auch ein Stadtlabor für das Ausloten von Raumaufteilungen, etwa zwischen Gastronomie, konsumfreiem Raum und dem Saal der Projektion. Und das Kino der Zukunft ist ein Ort der Verhandlung von Migration: Filme aus den unterschiedlichsten Teilen der Welt treffen auf Menschen aus den unterschiedlichsten Teilen der Welt, versammelt im selben Kinoraum.
Im Grunde ist der gesellschaftliche Bedeutungsverlust des Kinos, das in seiner Geschichte immer von gewerblichen Ansprüchen vor sich her getrieben wurde und dabei grotesken Ausgestaltungen unterlag, ein Momentum für seine Neuentdeckung als kulturelle Praxis – als Wahrnehmungsform des Einzelnen ebenso wie als kollektive Form der Gestaltung. Wer sind die Kinomacher*innen von heute, die Lust auf ein neues kommunales Kino haben? Erst der Prozess der Historisierung des Kinos bringt das Potenzial des Kinos und möglicher Alternativen ins Bewusstsein: dass man das Geschäftsmodell also sterben lassen und die kulturelle Praxis zugleich retten kann. Es geht darum, das Kommunale wie das Kino als Ort neu zu konzipieren.
Die mangelnde Akzeptanz von Kinokultur in Deutschland ist u.a. darin begründet, dass man es niemals geschafft hat, den Kulturbau Kino im öffentlichen Raum von gewerblichen Interessen und anderen Funktionszusammenhängen und Kultursparten freizustellen. Man hat Kinos entweder in die Keller von Museen verbannt oder sie unter Investorenarchitektur vergraben. Die Aufgabe heute besteht darin, Kinokultur als einen lebendigen sozialen Raum wieder sichtbar zu machen. Vielleicht ist es daher gar nicht mehr zeitgemäß, über jeden Kulturbau singulär nachzudenken, weil er extrem hohe architektonische und technische Anforderungen hat.
Wie kann man das mediengeschichtliche Wissen über Kino in bestimmte Standards übersetzen, die höchsten ökologischen Anforderungen genügen und in einer seriellen Bautypologie konzipiert werden können, die aber trotzdem skalierbar, modifizierbar bleiben? Ein Kino der Zukunft müsste die „Hardware“ des Kinos einmal exemplarisch gedanklich durchdringen und daraus Parameter ableiten, die an verschiedenen Orten kontext-spezifisch umsetzbar sind. Es müsste sich gesellschaftlichen Veränderungen der Arbeits- und Freizeitgesellschaft anpassen (Kino on Demand, Video on Demand usw.), Co-Working-Spaces sowie die Verbindung zu den Film verwandten Künsten in geeigneten räumlichen Verhältnissen neu entdecken (Vorträge, Tagungen, Performance, Expanded Cinema usw.). Ein Kino der Zukunft müsste ein Ort sein, der den Einzelnen in der Erfahrung von Film zur Wahrnehmung bringt und zugleich soziale Prozesse stimuliert.
Kino wurde im Nachkriegsdeutschland kaum je als Kulturbau betrachtet – also wie ein Museum, ein Theater oder eine Philharmonie. Außerdem hat man einen solchen Kulturbau niemals als einen Beitrag zur urbanen Entwicklung und vor allem nicht als intelligenten Beitrag zu nachhaltiger Klimaarchitektur verstanden. Eine neue Herausforderung könnte sein, Kino als Kulturbau ästhetisch, architektonisch, sozial, technologisch und städteplanerisch neu zu denken und damit auch als einen lebendigen Bestandteil urbaner Kultur. Dieses Kino könnte wesentlich preiswerter und nachhaltiger sein als andere Kulturbauten, etwa in Fertigbauweise, die individuelle Dimensionierungen und Nutzungen zulässt. In Zürich hat man mit der Tonhalle Maag einen akustisch offenbar großartigen Saal entworfen, der Bruchteile der Elbphilharmonie kostete, in Blaibach ein Opernhaus, das noch weit weniger kostete und mittlerweile schon zur Marke wurde.
Ein Kino der Zukunft liegt an einem zentralen Ort, der für viele Menschen leicht erreichbar ist, zugleich bildet dieses Kino selbst ein Zentrum im urbanen Raum, formt Urbanität. Es erzeugt seine eigene Energie und verbraucht nicht die anderer, es verwendet neuartige und recycelbare Baumaterialien, es korrespondiert mit neuen Verkehrswegen und -formen wie Radwegen, selbstfahrendem ÖPNV usw. Es reklamiert eine neue Nützlichkeit, stellt sich in Gebrauch und entwickelt seine soziale Mechanik mit seiner Nutzung. Verkehrs-, Energie- und Gebäudemanagement sind daher eng mit der Entwicklung digitaler Technologie verknüpft.
Das Zukunftskino stellt sich den gesellschaftspolitischen Aufgaben und tritt in Austausch mit der Welt. Vielleicht sogar ist das Kino besser als andere Kulturräume geeignet, sich den Herausforderungen einer gerechten und nachhaltigen Stadtplanung und der Transformation der Öffentlichkeit zwischen analoger und digitaler Welt zu stellen.
Projekt
Das Projekt möchte einen strukturierten und antizyklischen Prozess einleiten, um die Zukunft des Kinos zu diskutieren und zu planen – nicht aus wirtschaftlicher, sondern aus kultureller und sozialer Sicht. Das Kino der Zukunft kopiert keine klassizistischen Standards des Kinos, sondern schreibt die kulturelle Praxis, die mediengeschichtliche Besonderheit des Kinos unter veränderten technologischen, klimatischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen fort. Möglicherweise also wird das Kino der Zukunft zum einen eine vertiefte Kinoerfahrung bereitstellen und zum anderen vollkommen neue Aufgaben lösen. Das Projekt möchte neue Einsichten vermitteln und vor allem übertragbare und kostengünstige, zukunftsfähige und innovative Ergebnisse für eine soziale Stadt bereitstellen und den Virus einer Idee verbreiten: das Kino nicht als musealer Raum, sondern als Gestaltung der Stadtgesellschaft.
Das Projekt umfasst folgende Schritte und Bestandteile:
- Eine Recherche und einen Befund: Über mindestens ein Jahr hinweg sollen Kinobetreiber*innen und Programmgestalter*innen, Kuratoren*innen, Verleiher*innen, aber auch Fachleute aus Architektur, Klima- und Migrationsforschung, Städte- und Verkehrsplanung, Wirtschaft usw. nach ihren Vorstellungen und Anforderungen befragt werden, die in einen Planungsprozess und die Formulierung von räumlichen Thesen münden.
- Ein Symposium auf Basis der erarbeiteten Thesen für ein Kino der Zukunft unter Beteiligung von Kinobetreiber*innen und Programmgestalter*innen, Kurator*innen, Verleiher*innen, aber auch Fachleuten aus Architektur, Klima- und Migrationsforschung, Städte- und Verkehrsplanung, Wirtschaft usw.
- Ein Buch oder die Sonderausgabe einer Zeitschrift zur Dokumentation des Prozesses und der Ergebnisse.
- Die mögliche Umsetzung der planerischen Überlegungen.
Lars-Henrik Gass (Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen), Gabu Heindl (Architektin, Wien),
Alexander Horwath (Filmkurator und Autor)
November 2019