War der NSU-Prozess überhaupt kein Elefant?

24. Mai 2019

Von Kathrin Röggla

War der NSU-Prozess vielleicht überhaupt kein Elefant? Bzw. vielleicht gab es in diesem größten Nachwendeprozess gar nicht so viele Unaussprechbarkeiten kollektiver Natur, wie ich das annehmen möchte. Denn schließlich wurde ja auch nicht nur außenrum andauernd gesagt, der Richter verfehle die politische Dimension, der Bundesanwalt verfehle die Aufklärungsfunktion des Gerichts, das Gericht insgesamt wiederum die Herstellung des Rechtsfriedens, den dieser Prozess zu bewerkstelligen gehabt habe. Dies wurde zumindest eingebracht von den Nebenklagevertretern. Aber wurden sie gehört? Wer hat ihnen zugehört?

Die Medien, heißt es, aber die Medien zählen anderswo, im Gericht zählen sie nicht, das wäre ja noch schöner, das wäre ja ein Parallelverfahren in den Medien, wenn das, was diese Medien schreiben, eine Rückwirkung auf das Prozessgeschehen gehabt hätte. Das wurde in diesem Prozess ja immer wieder von Seiten der Verteidigung dem Gericht vorgeworfen.

Jetzt kam es nach über fünf Jahren zum Urteil. Der Richter habe es am Ende wie ein Automat heruntergenuschelt, habe ich mir erzählen lassen. Vermutlich, weil es dem Richter egal war, denn vor dem BGH zähle nur das schriftlich ausformulierte Urteil, nicht das mündliche. Oder weil er die Ambiguität zwischen politischem Prozess und dem Vorgehen, als handle es sich um einen ganz normalen Mordprozess, nicht ausgehalten hat. Oder weil ihm das Ganze zu viel war, weil er endlich einen Schlussstrich ziehen wollte, einen doppelten Schlusstrich.

Die ganze Urteilsperformance könnte man also als eine Abkehr des Mündlichkeitsprinzips im Gericht sehen, aber die Enttäuschung über die schlechte Performance würde wie eine deplatzierte Klage wirken angesichts des verheerenden Urteils, die Performance war vermutlich das Letzte, worüber man sich vor Ort Gedanken gemacht hat, denke ich mir, denn ich war ja nicht da.

Um da gewesen zu sein, hätte ich mich um 12 Uhr nachts anstellen müssen beim Gericht, denn alle wollten dabei sein bei dem Event des Urteilsspruchs. Das Gericht ist ein Ort, wo man hingeht, habe ich plötzlich gelernt. Wo etwas geschieht. Wo Ereignis, Sprache und Handlung noch zusammenkommen und sich nicht verfehlen, was freilich in diesem Prozess manchmal anders wirkte. Zur Performance im Gericht, habe ich mir also von einer Gerichtsreporterin sagen lassen, hätte es immerhin gehört, zumindest zwei Sätze an die Opfer und an die Angehörigen der Opfer zu richten, was er nicht getan habe. Ich habe auch erfahren, dass er sich allerdings ausdrücklich bei der Gerichtsöffentlichkeit bedankt haben soll, auch bei den sogenannten Gerichtsdienern, aber kein Wort an die Angehörigen gerichtet habe. Zudem habe niemand von den Journalisten gewusst, was er oder sie aus dem Urteil zitieren soll. Da gab es keinen zitierfähigen Satz. Das Gericht hat sich in sich selbst zurückgezogen.

Aber wo sollte in dem Verfahren der Elefant gesteckt haben? War dieser Prozess nicht überbeobachtet, überbeschrieben? Vielleicht lag eine Unaussprechbarkeit eher im Prozedere des Gerichts oder bereits in der Anklageschrift, wie die Vertreter der Nebenklage mir gegenüber nicht müde wurden zu betonen? Ist eine Nichtbenennung aus der Prozessleitung zu entwickeln, oder bin ich nur von meinem Gewerbe als Schriftstellerin begierig, diese andauernd anzunehmen? Was ist das für ein Sprechen im Gericht, wo ja mit Worten gehandelt wird? Was passiert mit Beweisanträgen, wenn sie abgewiesen werden, sind sie dann überhaupt gesagt? Die gerichtlichen Worte folgen einem strengen Kodex. Wann diese Anträge gestellt werden dürfen, und wann nicht. Was Beweiswürdigung verdient, was nicht, was relevant ist. Je mehr der Richter in die Mündlichkeit packt – denn da gibt es ja schon einen Spielraum –, desto mehr kann sich die richterliche Beweiswürdigung verstecken, sie ist nicht mehr nachvollziehbar und auch nicht mehr kritisierbar, in diesem Gericht wurde beispielsweise kein Wortprotokoll erstellt. (Deswegen war es in München so wichtig, oben auf der Empore mit zuprotokollieren, als Presse und als Zivilgesellschaft.)

Zudem ist streng geregelt, wer das Rederecht hat. Des Richters Uhrzeigersinn, so kann man das nennen: Senat, Bundesanwaltschaft, Nebenklage, Verteidigung, die Reihenfolge, um die natürlich auch gestritten wurde von Seiten der Verteidigung. Diesem Regelwerk steht gegenüber, dass das, was der Richter glaubt und was nicht, was er weiter verfolgen will und was nicht, letztlich bei ihm liegt. Z. B. war angeblich das einzige, was er der Hauptangeklagten glaubte, dass sie einem weiteren Angeklagten von den Morden erst 2007 erzählt hat. Niemand weiß, warum er ihr ausgerechnet das geglaubt hat – denn es ist äußerst unwahrscheinlich –, aber es entlässt diesen Angeklagten jetzt in die Freiheit.

Einige würden mit Sicherheit sagen, der Elefant ist der Geheimdienst, die Staatssicherheit, die Verfassungsschützer, die, wenn überhaupt, kostümiert in den Zeugenstand kamen. Doch es ist ein blasser Elefant, denn er wurde ja andauernd thematisiert, zumindest von der Nebenklage. Die schlechte Arbeit der Behörden, die bestehende Intransparenz von deren Versagen ist ebenfalls stark medial thematisiert worden.

Aber was nutzt all die Thematisierung, wenn sie nicht aufgegriffen wird? Gerade der Kontrast zwischen starker medialer und nebenklagebezogener und fehlender staatsanwaltschaftlicher Thematisierung lässt die Elefantenkonturen instabil erscheinen. Angeblich wurde ja sehr viel darüber geredet, heißt es, aber so, wie im Nachhinein darüber berichtet wird und in manchem ARD-Tagesschauduktus das Wort des Bundesanwalts vom Fliegengesumm der Nebenklage übernommen wurde, lässt vermuten, dass unser Tier vielleicht doch im Raum gestanden haben muss. Eines, das sich auswächst, ohne dass wir es merken, immer noch weiter wächst, und plötzlich inmitten der Gesellschaft stehen kann, aber im Moment seiner Auffälligkeit heftige Züge tragen wird. Ein erwarteter und unerwarteter Elefant wird es dann heißen, denn ein V-Mann-Elefant ist immer auch ein erwarteter, der mit der Behauptung auftritt, dass man ihn doch längst abgehakt hat. Dass man ihn längst zu Ende besprochen hat, obwohl natürlich nichts zu Ende besprochen ist.

Es ist für mich erstaunlich, in welchen medialen Schichtungen dieses Tier heute aufkreuzt. Der Prozess erzählt in jedem Fall auch, wie man gleichzeitig obsessiv über etwas sprechen und schweigen kann. Wie kann in einer überaus starken Thematisierung die Vermeidung des Themas liegen? Die Tragödie ist dem Gericht verbunden. Aber hier ist es das richterliche Ermessen und weniger das göttliche, die menschlich richterliche Beweiswürdigungskraft ist zentral. Er ist für den Elefantenzoo verantwortlich, den er großzieht. Aber in jedem Fall können wir auch jenseits des Gerichts davon ausgehen, dass der Elefant keinem einfachen Tabuisierungsgedanken entspricht. Schon alleine dadurch, dass er zwar immer noch enorm situativ ist, sich also auf Kontext und Dramaturgie bezieht.

Zudem ist er heute (im Gericht auf sehr eigene, formalistische Weise) doch umgeben von immer mehr Gerede, dem vielen Geschwätz, dem vielen Sprechen. Einem Sprechen, das man als Vermeidungsgeste bezeichnen kann. Dazu gehört auch all diese Scheinliberalität, und Scheinoffenheit, der wir begegnen. Die falschen Argumente, die falschen Alternativen, die uns als diskussionswürdig offeriert werden, wie die Frage, (pro und kontra) ob man Menschen aus dem Mittelmeer retten soll oder ob die Erde eine Scheibe ist oder nicht.

Für unsere Zoologie könnte sich herausstellen, dass es fadenscheinige Elefanten gibt und überbetonte, die schon fast wieder in Unsichtbarkeit umschlagen können – das wären die vom Rechtspopulismus ausgerufenen –, dünnhäutige und blasse, die allerdings viel grassierender und raumverdrängender sind.

 

Kathrin Röggla, Schriftstellerin, ist Vizepräsidentin der Akademie der Künste und Mitglied der Sektion Literatur. Zusammen mit Manos Tsangaris und Karin Sander hat sie das Forschungslabor „Wo kommen wir hin“ initiiert.

Der Text ist ein Auszug aus Rögglas Publikation Elefant im Raum, die Teil ihrer Installation Der Elefant im Raum ist. Sie ist noch bis 2. Juni 2019 in der Akademie am Hanseatenweg geöffnet. Die Publikation liegt in der Ausstellungshalle zur kostenfreien Mitnahme aus.