7.6.2022, 12 Uhr
Black Boxes – aus den ungarischen Archiven der Akademie der Künste
Archive sind unbekannte, wenn nicht geheimnisvolle Orte. Ein Blick in die Magazine mit ihren aufgereihten schwarzen Archivkästen verstärkt diesen Eindruck. Was enthalten die "Black Boxes", was gelangt in die Kästen und was nicht? Wer darf sie einsehen und nutzen? Was an Neuem entsteht daraus?
Im April 2022 eröffnete die Berliner Akademie der Künste in Zusammenarbeit mit dem ungarischen Online-Magazin Litera.hu die neue Reihe Black Boxes. In regelmäßigen Abständen werden die schwarzen Kästen für die Leserinnen und Leser von Litera.hu geöffnet, um Einblicke in die ungarischen Sammlungen des Akademie-Archivs zu geben, zu denen die Schriftstellerarchive der Akademie-Mitglieder Péter Esterházy, Imre Kertész, György Konrád und Péter Nádas gehören. Zu Wort kommen Autor*innen, Wissenschaftler*innen und Künstler*innen, die sich mit ganz unterschiedlichen Dokumenten auseinandersetzen und zum Nachdenken und Dialog über das Werk dieser herausragenden ungarischen Autoren der Gegenwart einladen möchten. Die Beiträge umfassen kürzere Kommentare, Berichte oder ausführliche Essays. Die Reihe ist ein offenes Forum in der ganz unterschiedliche Denk- und Sichtweisen zum Ausdruck kommen.
Die Anfänge der ungarischen Sammlungen im Akademie-Archiv reichen in die 2000er Jahre zurück, als Imre Kertész seine Romanmanuskripte, Werkentwürfe und Tagebücher zur Aufbewahrung übergab. Weitere Teile folgten, nachdem der Nobelpreisträger nach Berlin umgezogen und Mitglied der Künstlergemeinschaft geworden war. Seit Frühjahr 2019 bewahrt die Einrichtung auch das Archiv des langjährigen Akademie-Präsidenten György Konrád. Die Übergabe des Nachlasses des 2016 verstorbenen Péter Esterházy und des Künstlerarchivs von Péter Nádas in jüngster Zeit zeugen von der großen Verbundenheit der ungarischen Schriftsteller mit der Berliner Akademie und der Sorge um die Zukunft ihres schriftstellerischen Erbes.
Der Reichtum des Akademie-Archives besteht nicht nur darin, ein gigantischer Speicher von Kunst- und Kulturgeschichte zu sein. Neben dem Bewahren und Erhalten ist es seine Aufgabe, der interessierten Öffentlichkeit die Inhalte der Bestände durch Publikationen, Veranstaltungen und Ausstellungen zu vermitteln und so die Erinnerung an das Leben und Werk von Künstlerpersönlichkeiten im Bewusstsein der Menschen wach zu halten. Die Erreichbarkeit und Zugänglichkeit von Archiven ist durch den digitalen Wandel nun noch wichtiger geworden. Im Zeitalter digitaler Medien ist es zentral, verlässliche und authentische Informationen zu gewinnen. Durch den Rückgriff auf das Original und die Erschließung zeitlicher, thematischer und historischer Kontexte ist das Archiv die Garantie für authentische Vermittlung von Quellen und Informationen. Zugleich bieten die unikalen Dokumente immer wieder die Chance, einen eigenen Zugang zu finden und Neuentdeckungen zu machen. Dazu lädt diese Reihe ein.
Den Auftakt macht die in Paris und Berlin lebende Schriftstellerin Cécile Wajsbrot. Sie geht der Entstehung von Imre Kertész’ Rede Die exilierte Sprache nach und untersucht sie textgenetisch von der Handschrift bis zur Buchpublikation. Dabei nimmt sie auch die Materialität der Überlieferung unter die Lupe. Ihr Essay wirft ein Schlaglicht auf den Nachlass des Schriftstellers, benennt Verbindungslinien zwischen den ungarischen Exilanten und entwickelt eigene Ansichten über Möglichkeiten und Daseinsfragen der Archive. Aus anderer Perspektive nimmt der Schriftsteller Gábor Schein auf Kertész Rede Bezug. In seinem Essay stellt er Kertész’ Zwiegespräch mit Paul Celan in den Mittelpunkt, um über die Rolle und Möglichkeiten der Sprache nachzudenken. Mit Celan fällt Scheins’ Blick unweigerlich auf das vom Krieg bedrohte Czernowitz.
Weitere Beiträge zu den Archiven von György Konrád, Péter Esterházy und Péter Nádas werden im Laufe des Jahres folgen.
Unser Dank gilt den Archivgeber*innen und ihren Erb*innen, allen Beiträger*innen und besonders Litera.hu, die eine Realisierung dieser Reihe von Beginn an zu ihrer eigenen Sache gemacht hat. Wenn mit dem Erscheinen von neuen Texten der Black-Box-Charakter der Archive im Laufe der Zeit immer mehr schwindet und die Inhalte bekannter werden, haben die Initiator*innen und Herausgeber*innen dieser Reihe ihr Ziel erreicht.
Ansprechpartner*innen: Werner Heegewaldt, Direktor des Archivs; Katalin Madácsi-Laube, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Literaturarchiv