„Bis wir so leise sprachen, daß man neben unseren 
Worten / Auch unsere Stimmen hörte“
Suppenterrine aus dem Ursula-Krechel-Archiv

Suppenterrine aus einem Puppenservice, Porzellan, ohne Datierung

Privateigentum

Die weiße Suppenterrine
die da auf dem Bord
die kleine mit dem Haarriß im Deckel
aus dem Puppenservice meiner Mutter
Vorsicht
wir bewahren unsere Hoffnungen darin auf.

Ursula Krechel aus: Nach Mainz!, 1977

 

Die kleine Suppenterrine – sie ist mit Deckel zehneinhalb Zentimeter hoch – gehört zum Ursula-Krechel-Archiv, das sich seit Dezember 2020 in der Akademie der Künste befindet. Das Gedicht Privateigentum erschien 1977 in Krechels erstem Gedichtband Nach Mainz!

Worauf bezieht sich der Titel? Auf das „Privateigentum“ am Gegenstand, von dem hier die Rede ist, Puppenhausrat von marginalem praktischem Nutzen, Erinnerung vielleicht an die Mutter oder die eigene Kindheit? Oder sind es die Hoffnungen, die als „Privateigentum“ bezeichnet werden, Hoffnungen eines nicht näher bestimmten „wir“, und, wenn die kleine Terrine sie fasst: sehr bescheidene Hoffnungen? Immerhin sind sie (wem?) so kostbar, dass (von wem?) auf sie achtgegeben werden soll. Vielleicht böte die Umgebung einer Wohngemeinschaft das passende Bild, so wie sie Ursula Krechel in Zweite Natur. Szenen eines Romans 1981 entwirft, entsprechende gesellschaftspolitische Diskussionen inklusive. Doch achtgeben sollte auch, wer den vermeintlich  schlichten Text liest und daneben das kleine Porzellanobjekt sieht. Die Suppenterrine stammt tatsächlich von Ursula Krechels Mutter. Und sie ist als Spielzeug benutzt worden, leicht abgestoßene Kanten sowie zwei abgeplatzte Stellen zeugen davon. Ein Haarriss im Deckel ist jedoch auch bei genauem Hinsehen nicht auszumachen – den weist nur die fiktionalisierte Terrine im Gedicht auf. Sie ist stärker beschädigt als ihr reales Vorbild. Sie bietet nicht nur wenig Raum, sondern taugt, mit gesprungenem Deckel, überdies kaum als Schutz für den empfindlichen Inhalt.

Ursula Krechels Werk ist umfangreich und äußerst vielfältig, was Themen, literarische Gattungen und Schreibweisen angeht. Das Gedicht Privateigentum verweist auf die immer neue Auseinandersetzung mit Gewalt und Widerstand, im kleinen privaten ebenso wie im großen historischen Zusammenhang; und auf ein Schreiben, das vom Konkreten, oft vom Einfachen, häufig vom sorgsam Recherchierten ausgeht. Krechels erste publizierte Texte sind ab 1964 sehr bodenständige Artikel für die Trierische Landeszeitung, in denen die junge Autorin, die ihre Beiträge mit -el zeichnet, als Lokalreporterin über Veranstaltungen berichtet oder das Pfandleihhaus porträtiert. Rezensionen zu Theater und Literatur, Beiträge zu kultur- und gesellschaftspolitischen Themen, nicht zuletzt zur Frauenbewegung, folgen nach und nach in überregionalen Zeitungen und Zeitschriften. Für den Rundfunk arbeitet Krechel viel, nicht nur als Rezensentin, sondern sie verfasst auch Hörspiele wie etwa 1979 Das Parkett ein spiegelnder See, in dem sie Lebenserinnerungen von Dienstmädchen mit weiteren historischen Texten montiert: „Fiktionen, die das Historische fortschreiben“, wie sie in einem kurzen Vorwort programmatisch und für ihr weiteres Werk vorausschauend betont.

Jahrelange Recherchen zum Exil in Shanghai während der NS-Zeit (allein Kopien, Exzerpte, Notizen zu diesem Thema füllen im Archiv vier breite Ordner) münden 1996 in die vierteilige Serie von Rundfunksendungen Fluchtpunkte – Deutsche Lebensläufe in Shanghai. 1998 folgt das Hörspiel Shanghai fern von wo, 2008 der gleichnamige Roman, der in der parallelen Darstellung etlicher Biografien historische Präzision mit raffinierter Erzählkunst verbindet. Die beiden Romane Landgericht (2012) und Geisterbahn (2018) werfen den Blick auf das Schicksal eines deutsch-jüdischen Juristen und seiner Familie sowie auf die Ausgrenzung, Verfolgung, Folter und Ermordung von Sinti und Roma. Shanghai fern von wo und Landgericht zeichnen die Geschichte ihrer Protagonisten bis in die Nachkriegszeit. Die erzählte Zeit von Geisterbahn, dessen zentraler Handlungsort Trier ist, reicht bis fast in die Gegenwart hinein, denn auch die Lebenswege der in den 1940er-Jahren geborenen Kinder der Täter und Opfer geraten in den Blick. Dass Ursula Krechel 1947 in Trier geboren wurde und dort aufwuchs, eröffnet eine mögliche autobiografische Dimension des Romans. Die Hoffnung gerade von Sinti und Roma, nach 1945 Genugtuung zu erfahren, verflog angesichts der langjährig etablierten und weiterhin bestehenden alltäglichen Marginalisierung dieser Gruppen, der Missachtung ihrer Rechte und Ansprüche.

Das große Poem Stimmen aus dem harten Kern (2005) ist weniger historisch konkret als die Romane, doch äußerst präzise erfasst es unterschiedliche Arten des Sprechens über Krieg, Gewalt, Aggression. Wieder bezieht sich Krechel, gelegentlich auch wörtlich, auf vorgängige Texte, die sie in einen eigenen Text einschmilzt, mitunter als Zitat herausleuchten lässt: ein Geflecht von Stimmen von der Antike bis in die Gegenwart, vom Trojanischen Krieg über den Kolonialismus bis hin zu aktuellen Konflikten etwa im Irak, Ströme von Gewalt, Faszination und Angst. Hoffnung kaum, nicht einmal im letzten der zwölf Abschnitte „Simulation. Heimkehrumkehr“, in dem die Möglichkeit einer Existenz nach, neben dem Krieg ad absurdum geführt wird. Abschnitt II: „Konzentration. Vorrücken“ versammelt Stimmen eines kollektiven Subjekts, die sich dennoch ihrer Vereinzelung bewusst sind und den Grenzen ihres Sprechens: „Bis wir so leise sprachen, daß man neben unseren Worten / Auch unsere Stimmen hörte“.

Krechel macht leise Stimmen hörbar, Stimmen der sozial Marginalisierten ebenso wie von Geflüchteten, Ausgegrenzten, so auch in der im Mai 2024 gehaltenen Trierer Rede „Vom Herzasthma des Exils“. Krechels eigene literarische Stimme ist deutlich und präzise, parteiisch und unpathetisch. Im Roman Sehr geehrte Frau Ministerin, der Anfang 2025 erscheinen wird, setzt sie ihre Arbeit an der Geschichte der offenen und strukturellen Gewalt fort, an der Erforschung der Möglichkeiten des Individuums, sich  zu entziehen, zu widersetzen – der kleinen Hoffnung.

Autorin: Helga Neumann arbeitet als Archivarin im Literaturarchiv der Akademie der Künste, Berlin.


Ursula Krechel ist seit 2017 Mitglied der Sektion Literatur der Akademie der Künste, Berlin. Das Ursula-Krechel-Archiv umfasst derzeit etwa 12 laufende Meter an Werkmanuskripten, Druckbelegen und Materialsammlungen, Korrespondenzen mit Personen und Institutionen sowie audiovisuelle Materialien. Mit einer Veranstaltung in der Akademie der Künste wurde das Archiv am 20. November 2024 eröffnet.


Erschienen in: Journal der Künste 23, November 2024, S. 56-57