17.5.2016, 17 Uhr
Interview mit Akademie-Mitglied Wilfried Wang, Kurator der Ausstellung „DEMO:POLIS – Das Recht auf Öffentlichen Raum“
Die aktuelle Akademie-Ausstellung „DEMO:POLIS – Das Recht auf Öffentlichen Raum“ stellt vor, welche Möglichkeiten die Zivilgesellschaft bei der Gestaltung des öffentlichen Raums hat. Wilfried Wang, Akademie-Mitglied und stellvertretender Direktor der Sektion Baukunst, ist Kurator der Ausstellung. Die Architektur- und Kunsthistorikerin Julia Albani hat ihn zu der Schau, die noch bis Ende Mai zu sehen ist, befragt.
Julia Albani: Nach den Ausstellungen „Wiederkehr der Landschaft“ im Jahr 2010 und „Kultur:Stadt“ im Jahr 2013 widmet sich die Sektion Baukunst nun dem öffentlichen Raum. Warum dieser Dreischritt?
Wilfried Wang: Es waren immer Auseinandersetzungen mit der Stadt. „Wiederkehr der Landschaft“ hatte zum Ziel, das Thema Stadtlandschaft und die Frage, in welcher Weise sich Städte mit ihrer Umgebung auseinandersetzen sollten, ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken. „KULTUR:STADT“ war der Versuch zu zeigen, inwieweit Leuchtturmprojekte ganze Stadtviertel und ganze Städte sanieren könnten.
„DEMO:POLIS” geht in diese Richtung weiter, weil die Ausstellung fragt, inwieweit der öffentliche Raum als Medium von unterschiedlichen Interessen beansprucht wird. Einerseits ist der öffentliche Raum ganz offensichtlich ein Ort der Aufmerksamkeit für den einzelnen, aber auch für Unternehmen und für ganze Städte. Wenn es um einen Marathon geht oder eine Fashion Week, warum müssen diese Großveranstaltungen unbedingt mitten in der Stadt stattfinden? Wenn das UEFA-Cup-Finale in Berlin ist, warum müssen wir einen Pavillon auf dem Pariser Platz bauen? Es sind nach wie vor die alten Renaissance-Ideen von einer Stadtkulisse als Theaterkulisse vorhanden.
Andererseits gibt es Bestrebungen, den öffentlichen Raum auch zunehmend zu privatisieren, ihn tatsächlich der Öffentlichkeit komplett zu entziehen. Und ich spreche jetzt noch gar nicht von öffentlichem und sozialem Wohnungsbau, der privatisiert und verkauft wurde, das ist ein weiteres Kapitel. Ich spreche davon, dass Flächen, die im öffentlichen Besitz sind, Gärten oder Parks, einfach billig verkauft werden. Sie werden nicht gepflegt, sondern systematisch kaputt gemacht. Dann sagt man, es gäbe keine Mittel und es sei besser, sie in private Hände zu geben und den Entwicklern für ihre Vorstellungen zu überlassen.
Das sind Tendenzen, die ganz besonders in Europa in den letzten 20 bis 25 Jahren zu beobachten sind – katastrophale Entwicklungen, weil der öffentliche Besitz, der mit großer Anstrengung über Jahrzehnte, Jahrhunderte zusammengetragen wurde, nun in so kurzer Zeit einfach und ohne wirkliche Gegenleistung verscherbelt wird – das ist kriminell, korrupt und neo-liberal.
JA: Der öffentliche Raum ist Ort für öffentliche Meinungsäußerungen, aber unter dem Vorwand der Sicherheit geht es bei Ideen und Konzepten zum öffentlichen Raum zunehmend um Überwachung und Kontrolle. Wie gehen Sie in der Ausstellung auf diesen Widerstreit ein?
WW: Man muss sich bewusst sein, dass der öffentliche Raum, bevor es Überwachungssysteme gab –Kameras oder Satelliten – eigentlich ein Raum war, in dem sich ein normaler Mensch anonym und frei bewegen konnte, jedenfalls im freien Westen. Heute haben wir einen Verlust an Öffentlichkeit insoweit, als dass der Mensch – der „public man“, wie Richard Sennett sagt – sich nicht mehr frei in der Öffentlichkeit bewegen kann und sich nicht mehr so frei äußern kann wie vor 10, 15 oder 20 Jahren. Und das ist ein enormer Verlust an Freiheit. Dagegen haben verschieden Leute versucht zu protestieren – ohne Erfolg. Wir sind in einer Situation, in der diese Freiheit nicht wirklich verteidigt wird. Und dabei geht es um eine fundamentale Freiheit.
Die Ausstellung greift an dieser Stelle ein: Wir haben Demonstrationen, mit ganz unterschiedlichen Demonstrationszielen, wie z. B. die Freiheitskämpfe in Nordafrika oder in den arabischen Ländern oder die Proteste gegen die Sozialisierung privater Verluste, wie Occupy Wall Street, zum Thema im Hauptsaal der Ausstellung gemacht. Im Anschluss geht die Ausstellung über zum Thema „Kunst im öffentlichen Raum“ und betrachtet die Reaktionen einzelner Menschen: Wie durch Street Art und Graffiti eine Art Aufbegehren und stiller Protest eines Einzelnen entsteht. Aber wir zeigen auch Aktionen wie die von Wermke/Leinkauf. [Bei ihrer Aktion White American Flags hissten Matthias Wermke und Mischa Leinkauf in der Nacht vom 21. auf den 22. Juli 2014 zwei handgenähte weiße Flaggen anstelle der amerikanischen Flaggen auf den Türmen der Brooklyn Bridge in New York.] Wermke/Leinkauf wollten die Erbauer der Brooklyn Bridge feiern, die Aktion wurde dann aber zu einem Spektakel des Sicherheitssystems der USA – oder besser des Mangels des Sicherheitssystems. Das verbindet diese Aktion auch mit dem Bereich Demonstration gegen Überwachung.
JA: Wo liegt die Verpflichtung oder auch Verantwortung des Einzelnen für den öffentlichen Raum?
WW: Viele Menschen sind erst einmal unbescholten und unschuldig und nehmen eine Art Vogel-Strauß-Haltung ein. So lange es mich nicht tangiert, muss ich nicht kämpfen, weil der Verlust für mich nicht spürbar ist. Das ist natürlich genau das, was die meisten Sicherheitsdienste ausnutzen, um ihre Systeme weiter auszubreiten. Das ist ein ganz großes Problem. Die Ausstellung zeigt, dass der öffentliche Raum als Medium für verschiedene Zwecke genutzt werden kann. Er ist ein Kontaktmedium, ein Medium der Selbstdarstellung, ein Medium der Selbstbehauptung. Ein sehr fragiles. Diese Fragilität entsteht durch die verschiedenen Interessen, und in dieser Gemengelage beziehen die Politik und die Verwaltung nicht eindeutig Position für die Freiheit, im Sinne der Freiheit, und im Sinne der Rechte der Öffentlichkeit.
Jedes der in der Ausstellung gezeigten Exponate steht exemplarisch für einen gewissen Aspekt innerhalb dieser Debatte: Lacaton & Vassals Place Léon Aucoc in Bordeaux steht zum Beispiel dafür, dass nicht jeder öffentliche Raum von einem Architekten umgekrempelt werden muss. Leave it alone! If it works, leave it alone! Und genau das ins Bewusstsein zu bringen, dass gewisse Dinge eben nicht nach dem US-amerikanischen Prinzip frei verfügbar sind, versucht die Ausstellung anhand von exemplarischen Projekten aufzuzeigen. Wir betrachten den großen und auch den kleinen Rahmen, in dem bürgerschaftliches Engagement, nachbarschaftliches Engagement heute wirken – wie in Madrid oder in Dublin, wo Anwohner zusammenkommen und für sich feststellen: Da ist eine Brache, die durch Fehlspekulation der Verwaltung und der Politik entstanden ist. Das ist eigentlich öffentlicher Raum, der uns gehört. Wir haben ein Recht auf diesen Raum und den werden wir so bespielen, wie wir ihn bespielen wollen.
JA: Wie positioniert sich in diesem Kontext der Architekt oder der Gestalter? Ist er immer noch „die Hand des Volkes“, wie er in den 1960er und 1970er Jahren beschrieben wurde?
WW: Ja, das war damals so. Es hat sich vieles verändert und ein Architekturbüro, das sich heute zurücklehnt und auf einen Anruf von einer Bürgerbewegung wartet, ist heute passé. Die Architekten haben sich zu positionieren. So wie Rozana Montiel in Mexiko-Stadt zum Beispiel, die erkannt hat, dass es glücklicherweise auch aufgeklärte Auftraggeber wie die INFONAVIT, eine große nationale Wohnungsbaugesellschaft, gibt. Die Gesellschaft hatte festgestellt, dass es eine Fehlentwicklung in den verschiedenen Siedlungen gegeben hat. Und dass sie auf die Hilfe von Architekten angewiesen ist. Im Projekt von Montiel ging es um Wohnungsbaublöcke aus den 1960er und 1970er Jahren, mit Hofstrukturen, 16 Blöcke mit 40 bis 60 Wohneinheiten. In den Innenhöfen, die früher als Spielplätze oder Parkplätze genutzt wurden, hatten die Bewohner sukzessiv Teile für sich reklamiert und mit Zäunen abgegrenzt, um ein bisschen Vorstadtglück zu simulieren. Dadurch war eine Art Labyrinth entstanden, in dem sich keiner mehr sicher fühlte, was dazu führte, dass dieser öffentliche Raum nicht mehr benutzt wurde. Rozana Montiel hat es geschafft, durch Gespräche die Bewohner zu einer Art Nachdenklichkeit zu bewegen, die dann letztlich dazu führte, dass sie freiwillig ihre Zäune abgebaut haben. Dann wurde ein offener Pavillon errichtet für gemeinschaftliche Veranstaltungen, Grillparties, Nachmittagsschule und so weiter. Das Interessante war, dass die benachbarten Blöcke diese Entwicklung verfolgten und für sich nachahmen wollten. Drei weitere dieser Pavillons wurden dann eingerichtet.
Hier übernimmt der Architekt die Verantwortung, eine Vision aufzuzeigen, die sich als Alternative bietet, ohne dass ein normaler Mensch sich das vielleicht zunächst vorstellen kann. Vision aber heißt nicht immer gleich pompöse Strukturen à la Libeskind und Koolhaas, sondern heißt – wie hier in Mexiko –, dass ein einfacher Pavillon, mit minimalem Aufwand gestaltet (ohne selbstreferenzielle Architektur zu sein), die Alternative ist. Da passt alles: Inhalt, Form und Nutzung. Und da müssen wir wieder hinkommen.
Ein weiteres Beispiel ist Andrés Mignucci in San Juan, Puerto Rico, der die Entwicklungen des Küstenabschnitts der Stadt seit Langem kritisch beobachtet. Dieser wurde über Jahrzehnte zugebaut mit privaten Hotels, Appartements und Villen, so dass der Zugang zum Strand nur unter schwierigen Umständen möglich war. Durch den Abriss eines Konferenzzentrums aus den 1970er Jahren wollte ein spanisches Hotelkonsortium ein mediterranes Wellness-Ressort an dieser Stelle umsetzen. Wozu braucht man an der karibischen Küste ein Mittelmeer-Wellness-Konzept? Der Fall wurde ein Politikum, man diskutierte, warum ein Konferenzzentrum, das sich in öffentlichem Besitz befindet, an einen privaten Investor verkauft werden kann. Da hat Andrés gesagt, Da schaffen wir wieder den Zugang zum Meer. Diese Forderung wurde dann Teil eines Wahlkampfes. Eine Bürgermeisterkandidatin identifizierte sich mit dem Projekt. Sie gewann die Wahl und das Projekt „La Ventana al Mar“, „ein Fenster zum Meer“, wurde umgesetzt. Es klingt wie ein Märchen – ist aber Wirklichkeit.
Das ist eine der Ermutigungen innerhalb der Recherchen, die wir für die Ausstellung betreiben konnten, dass es wirklich intelligente und ästhetisch ansprechende Beispiele gibt, die politisch verankert sind, im Interesse der Öffentlichkeit, nicht allein im Interesse der Politik oder der Architektur. Diese Synthese wieder herzustellen ist einer der wichtigsten Aspekte dieser Ausstellung.